21 April, 2024

Im Rückspiegel


Wenn ein Film fertig ist, bin ich in Gedanken beim nächsten Projekt. Ich schaue nicht gerne zurück, will nichts bereuen, nicht zu viel darüber nachdenken, was man anders hätte machen sollen. Jeder Film hat ein Datum und zu jedem anderen Zeitpunkt hätte der Film anders ausgesehen: Dieses Mantra stellt den Zweifel still.

Ich sehe mir meine Filme nach Fertigstellung nicht wieder an, weil ich sie bis dahin hundertmal gesehen habe, während des Schnitts, im Sounddesign, in der Mischung. Aber vielleicht auch deshalb, weil ich an eine Entwicklung glauben will. Die Illusion, man könnte von Film zu Film wie auf einer Stufenleiter gehen, höher, weiter, näher ans Licht, hilft mir am Morgen aufzustehen.


Als UNTER DIR DIE STADT zu Gast war bei „Frankfurt schaut einen Film” – acht Frankfurter Kinos zeigten den Film am 17. März 2024  – habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich hatte ihn seit seiner Premiere in Cannes 2010 nicht wiedergesehen.


Um gleich Farbe zu bekennen: es war schön. Weil der Film schön ist. So klar hatte ich das damals nicht erkennen können. Mein Blick war nicht mehr verstellt von den Plänen, dem Wissen um bestimmte Widerstände, den Phantomschmerzen in Bezug auf gestrichene Szenen. An diesem Vormittag endlich sah ich mehr als die Summe der Teile, und ich bin dankbar für diese Erfahrung.


Mich hat überrascht, wie ambitioniert die Erzählung ist – und wie vielen ihrer Ambitionen sie gerecht wird. Nein, natürlich nicht allen. Damals hatte ich enttäuscht geschrieben: „Jeder Film die Ruine seiner Ambition.” Aber so wie die Skizze oft mehr verspricht als das Gemälde …so ergänzen wir die Ruine zu einer größeren Vergangenheit gewissermaßen. 


Es ist nicht leicht, seinem jüngeren Ich ins Auge zu sehen, aber falls man dem Blick standhalten kann, erkennt man Unterschiede. Ich bin erschrocken über das Selbstvertrauen von damals. Womöglich bin ich heute empfindlicher für Einwände, für Wünsche eines Publikums? Vielleicht ist das Fell fünfzehn Jahre später nicht mehr so dick? Jedenfalls habe ich Lust bekommen, in den nächsten Filmen mehr zu wagen, im Sinne eines Kinos, das neu ist, namenlos, und gefährlich für den Status Quo.

09 April, 2024

„Bis ans Ende der Nacht” @ MUBI



Meinen Film BIS ANS ENDE DER NACHT kann man ab 12.04.2024 auf MUBI streamen.

Daniel Kasman schrieb in seinem Berlinale-Bericht auf MUBI Notebook:

„Compellingly dense in story and style, it also has a tight-fisted atmosphere created by the gorgeous, gray-shaded, and layered cinematography. This is a reminder of what a cinema-steeped director like Hochhäusler (...) can do: You can't but feel the norms of cinema being tweaked and torqued under his sharp gaze.”

29 März, 2024

Gespräch über neue Kinoarchitektur

Am Mittwoch, den 17.04.2024 um 12 h moderiere ich ein Gespräch über neue Kinoarchitektur: Kinos bauen, Europa bauen – Zur Zukunft europäischer Kinobauten” auf dem Kongress „Zukunft Deutscher Film” * im Rahmen des LICHTER Filmfest in Frankfurt am Main. 

Zu Gast sind die Architekten Hugo Herrera Pianno (Baumschlager Eberle Architekten), verantwortlich für das Europejskie Centrum Filmowe Camerimage in Torun / Polen (2025) und Dietmar Feistel (Delugan Meissl Associated Architects), verantwortlich für Haus für Film und Medien in Stuttgart (2027) sowie übrigens auch für das stilprägende EYE in Amsterdam (2011)

Herausragende Beispiele eines neuen Bauens für das Kino oder genauer gesagt – und über diese Differenzierung wird zu sprechen sein – für öffentliche Kinoinstitutionen. Ich bin gespannt!

Visualisierungen für das Festivalzentrum Cameraimage, Torun (2027, oben)
sowie für das Haus für Film und Medien, Stuttgart (2025, unten). 
 

Sehr zu empfehlen: Die Kongress-Brochüre „Theory of Cinema” (PDF), mit einer ganzen Reihe interessanter neuer Kinoarchitekturen, darunter natürlich auch die oben genannten Projekte, die man kostenlos downloaden kann.

*) Veranstaltungsort ist das Festivalzentrum (Plenum), Eschersheimer Landstraße 28, Frankfurt am Main.


Update: Inzwischen kann man das Gespräch auf dem YouTube-Kanal des Festivals nachholen.

21 März, 2024

Position @ Diagonale

Gute Nachrichten: Die kommende Diagonale in Graz (4.-9.04.2024) wird mir eine „Position” widmen, eine Werkschau, auf der alle meine Langfilme (sowie zwei Kurzfilme) zu sehen sein werden, zum Teil in neu restaurierten Fassungen. Die meisten Vorführungen werde ich persönlich begleiten. Esther Buss' sehr schöner Einführungstext findet sich hier. Über die einzelnen Filme schreiben kenntnisreich neben Esther Buss (FALSCHER BEKENNER), Philipp Stadelmaier (FIEBER, EINE MINUTE DUNKELBIS ANS ENDE DER NACHT) und Michael Pekler (SÉANCE, MILCHWALD, UNTER DIR DIE STADT, DIE LÜGEN DER SIEGER). Außerdem wird der Berliner Filmkritiker Andreas Busche (im Anschluss an die Vorführung von BIS ANS ENDE DER NACHT) ein „Nachspann” betiteltes Werkstattgespräch mit mir führen. Und weil Revolver seit über 25 Jahren Teil meines filmischen Wirkens ist, werden wir in Graz auch ein Revolver Live! mit dem Kameramann Jürgen Jürges machen (Nicolas Wackerbarth und ich führen das Gespräch).

Vielen Dank für die Einladung, Dominik Kamalzadeh & Claudia Slanar


Termine:   

05.04., 10.30 h,  FALSCHER BEKENNER (2005) @ Schubert Kino 1. Filmgespräch moderiert von Daniel Moersener.

06.04., 17.30 h,  BIS ANS ENDE DER NACHT (2023) @ Schubert Kino 1

Daran anschließend, als „Nachspann”, ein Werkstattgespräch, moderiert von Andreas Busche.

07.04., 14 h, Revolver Live! (62): Jürgen Jürges – zugewandte Zeugenschaft 

07.04., 17.30 h, SÉANCE (2009) + DIE LÜGEN DER SIEGER (2014) @ Rechbauer Kino. Filmgespräch moderiert von Sven von Reden.

08.04.,17.30 h, FIEBER (1999) + MILCHWALD (2003) @ Schubert Kino 1. Filmgespräch moderiert von Bert Rebhandl.

08.04., 20 h, UNTER DIR DIE STADT (2010) @ KIZ Royal Kino 1. Filmgespräch moderiert von Sven von Reden.


09.04., 11 h, DREILEBEN – EINE MINUTE DUNKEL (2011) @ Schubert Kino 1.

Stand: 21.03.2024

Revolver Live! (62): Jürgen Jürges – Zugewandte Zeugenschaft


Jürgen Jürges (*1940 in Hannover) gehört ohne Zweifel zu den größten Bildgestaltern des europäischen Kinos; gleichzeitig ist er dem breiten Publikum weitgehend unbekannt. Das hat mit seiner leisen Art zu tun, aber womöglich auch mit der ungewöhnlichen Vielfalt seiner Filmographie. Jürges war nie einer, der sich auf Markenzeichen hätte festlegen wollen, immer wieder hat er sich auf neue Setzungen, Sichtweisen und Erzählstile eingelassen. Von Rainer Werner Fassbinder (mit dem er vielfach zusammen gearbeitet hat, darunter bei Angst essen Seele auf und Fontane Effie Briest) bis Michael Haneke (u.a. Funny Games und Code Inconnu), von Wim Wenders (In weiter Ferne so nah!) bis Uli Edel (Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo), von Tankred Dorst (Mosch, Eisenhans) bis Ilya Khrzhanovsky (Dau Zyklus), von Roland Klick bis Andreas Kleinert, von Helma Sanders-Brahms bis Robert van Ackeren usw. Was die Arbeiten bei aller Unterschiedlichkeit verbindet ist vielleicht so etwas wie eine zugewandte Zeugenschaft, ein dokumentarisches Ethos, das die Fiktion durchdringt und beglaubigt. Wir freuen uns, mit Jürges am konkreten Beispiel einiger ausgewählter – und stilistisch höchst unterschiedlicher – Projekte über seine Arbeitsweise(n) zu sprechen. 

Christoph Hochhäusler, Nicolas Wackerbarth 


Am Sonntag, den 07.04.2024 um 14 h im Diagonale Forum (Heimatsaal im Volkskundemuseum Graz) im Rahmen der Diagonale. Eintritt frei.


P.S.: 

Zwei Filme, die Jürgen Jürges fotografiert hat, werden außerdem in voller Länge auf Leinwand zu sehen sein, projiziert von 35 mm: Am 06.04.2024 um 17:30 h CODE INCONNU (Regie: Michael Haneke, 2000) im Rechbauer-Kino sowie am 07.04.2024 um 11 h EISENHANS (R: Tankred Dorst, 1983) im Schubertkino 1, den Jürges zu seinen persönlichen Lieblingsfilmen zählt.



© Emely Timm



Jürgen Jürges

Geb. 1940 in Hannover. 1961 Photografische Ausbildung an der Letteschule in Berlin. Diplom. Bis 1963 Kameravolontär bei Hans-Jürgen Pohlands „art film GmbH“. Ab Mitte der 1960er Jahre Kameraassistent u.a. bei Volker Schlöndorffs Der junge Törless (1966) und Mord und Totschlag (1967). Ab 1970 als Chefkameramann tätig. Er arbeitet in Folge mit einigen der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films (Rainer Werner Fassbinder, Reinhard Hauff, Wim Wenders, Helma Sanders-Brahms). Filme wie Die Zärtlichkeit der Wölfe (Uli Lommel, 1973), Angst essen Seele auf (RWF, 1973), Fontane Effi Briest (RWF, 1974), Satansbraten (RWF, 1975, nur 1. Drehabschnitt), Paule Pauländer (Hauff, 1976), Deutschland bleiche Mutter (Sanders-Brahms, 1980) entstehen in der Zeit. Deutscher Filmpreis / Beste Kamera 1980 für die Arbeit an Kückelmanns Die letzten Jahre der Kindheit (1979). In den 1980er Jahren fächerte sich Jürges‘ Kameraarbeit noch weiter auf: Von Uli Edels Reportage-Reißer Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981), über die große Künstlichkeit in Robert van Ackerens Beziehungsdrama Die flambierte Frau (1983), zu Arend Agthes impressionistischen Kinderabenteuerfilmen Flußfahrt mit Huhn (1985) und Der Sommer des Falken (1988) oder auch dem Schimanski-Kinofilm Zahn um Zahn (Hajo Gies, 1985). 1986 Deutscher Kamerapreis für das Fernsehspiel Die Wupper (Regie: Jürgen Flimm) sowie 1988 für Eisenerde Kupferhimmel (Regie: Zülfü Livaneli). 1994 Deutscher Filmpreis / Beste Kamera für In weiter Ferne, so nah! (Regie: Wim Wenders), 1999 für Wege in die Nacht (Regie: Andreas Kleinert). Mit Michael Haneke: Funny Games (1997), Code inconnu (2000) und Wolfzeit (2002). Im Rahmen von Ilya Khrzhanovskys monumentalen Dau-Projekt entstehen über einen Zeitraum von 10 Jahren mehr als ein Dutzend Spielfilme, für die Jürges die Bildgestaltung übernimmt, darunter Dau: Natasha, für den er 2020 einen Silbernen Bären für die beste Kamera gewinnt. Im Rahmen der Bild-Kunst Kameragespräche wurde Jürges im März 2016 der 16. Marburger Kamerapreis für herausragende Bildgestaltung im Film verliehen. Den Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk erhielt er 2022.

19 März, 2024

Dialogische Arbeit

Über das Schreiben mit Ulrich Peltzer (2012).

„Die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler” heißt es bei Bachmann (Malina) – einer jener „schlagenden” Sätze, die man für wahr hält, obwohl oder weil sie der Erfahrung ganz entzogen sind. Für die Filmgeschichte scheint das Gegenteil zu gelten. Allenthalben Schüler, Lernwillige, ewige Studenten, die die Filmgeschichte nach Brauchbarem abklopfen, die Regeln herauszulesen suchen, und Regelmässigkeiten, bis sie von der nächsten Seherfahrung wieder umgeworfen werden. 

Den Genrebeschwörungen (und den vielen Metern Beratungsliteratur) zum Trotz: Jede Dramaturgie ist experimentell. Das ist die Quintessenz unserer Zusammenarbeit, Ulrich Peltzers und meiner. Wir schreiben zusammen, buchstäblich, das heißt wir sitzen einander gegenüber, Ulrich meistens am Rechner. Er tippt, liest vor, hört sich meine Vorschläge an, lässt sich diktieren, weist Sätze zurück oder wägt sie ab, hört sich meine Argumente an, argumentiert dagegen. Es ist eine dialogische Arbeit. 

Wichtig ist, einen Vorschlag zu hören. Ihn widerzugeben. Immer wieder entspinnen sich weitreichende Diskussionen: ästhetische, politische, persönliche, angeregt von einem Dialog, einer Szenenidee – wer würde so etwas tun oder sagen? Mitunter nehmen diese Gespräche einen größeren Raum ein als die „Arbeit”. Immer wieder befragen wir das Netz, Wikipedia, Youtube, die Filmgeschichte, sehen uns Szenen an, lesen in bewunderten Büchern oder Drehbüchern – „Wie haben es die anderen gemacht?” – um dann unseren eigenen Weg zu gehen. 

Es sind Gedankenreisen mit Einträgen ins Logbuch, als Basis für Dreharbeiten, die den Text „restlos” verzehren sollen, um selbst „Text” zu werden. Für einen Schriftsteller ist das Drehbuchschreiben also eine Zenübung, ein „Werk” bleibt nicht übrig, ja im Zweifel sieht die Öffentlichkeit im Regisseur den Autor, später. Vielleicht ist unsere Zusammenarbeit deshalb so heiter? 

Zweifel gibt es auch. Immer wieder betreffen sie Konstruktionsfragen. Wie fädelt man eine Geschichte ein? Was ist glaubwürdig? Was anschaulich? Entlang dieser Naht passieren die meisten Korrekturen. „Die Handlung als einen Bogen begreifen, der die Charaktere so in Spannung bringt, dass sie kenntlich werden. Im Relief der Bewegungen, Gesten und Worte ein dreidimensionales Bild entstehen lassen.” So habe ich mein filmisches Ideal einmal beschrieben. Aber mit Idealen kann man nicht arbeiten. 

Eher ist es so, dass man sich auf ein Material einlässt, einer Neugier folgt, die unerklärlich ist – um später dann, in einer Phase der Kritik, auf das Ideal zurückzukommen. Nicht um alles zu ändern. Eher um staunend das eigene Scheitern zu vermessen. Jeder Film ist die Ruine seiner Ambition. Das gilt natürlich auch für das Drehbuch. Zwei Bücher haben wir bisher zusammen geschrieben. Das neue Buch soll bald „verzehrt” werden. Ich bin gespannt auf die nächste Reise. 


(Den Anlass für den Text erinnere ich nicht mehr genau. Inzwischen haben Ulrich Peltzer und ich übrigens vier Drehbücher verfasst: UNTER DIR DIE STADT (2010), DIE LÜGEN DER SIEGER (2014), DER TOD WIRD KOMMEN (2024) und, noch unverfilmt: ICH HAB' DICH LÄCHELN SEHEN. Ein fünftes Projekt ist in Sicht.)

18 März, 2024

(Wieder-) Gesehen [21]

THE INTRUDER (Roger Corman, USA 1962)


Ein Mann in strahlend weißem Anzug kommt in eine Kleinstadt, um sie einzuseifen. William Shatner spielt den Rassisten „Adam Cramer” als fiebrig-kalten Verführer, der die eigenen Defizite in der Wirkung auf andere korrigiert sehen will. Besonders im Gedächtnis bleibt mir die Entzauberung des Demagogen durch den Mut eines „einfachen” Mannes, mit überraschenden Zwischentönen gespielt von Leo Gordon. Der Film ist, für Corman ungewöhnlich, der Versuch einer direkten politischen Intervention, inmitten einer vom Ende der Segregation aufgewühlten amerikanischen Gegenwart, und gehört angeblich zu Cormans größten kommerziellen Misserfolgen – was noch einmal ganz andere Fragen aufwirft.


BELLE (Mamor Hosoda, Japan 2021)


Die Welt wartet noch immer auf einen Film, der jenen wachsenden Teil unseres Lebens, den wir online verbringen, auf den Punkt bringt. Dieser Film ist ziemlich nah dran, finde ich. Nie jedenfalls habe ich das digitale „Wir” zwischen warmer Dusche und Lynchmob überzeugender erlebt.


HER (Spike Jonze, USA 2013)

Science Fiction ist ja notwendig Spekulation, die die Gegenwart verlängert. In diesem Fall geht das auf, finde ich, zehn Jahre später kann man sagen: die Zukunft, die heute unsere Gegenwart ist, hat vielsagende Berührungspunkte mit dieser Fiktion, in der die „Affäre” mit einer künstlichen Intelligenz (Scarlett Johansson) in intimere Seelenwinkel vordringt, als es dem professionellen Briefeschreiber „Theodore” (Joaquin Phoenix) gegenüber und mit Menschen möglich ist.


WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (Michail Kalatosow, UdSSR 1957)

Beim Wiedersehen hat mich die meisterhaft „entfesselte” Kamera noch mehr und die Liebesgeschichte etwas weniger beeindruckt – sie kam mir jetzt seltsam unspezifisch vor und ist dadurch natürlich besonders offen für Projektionen eines sehnenden Publikums. Aber wie die Kamera zaubert!

ONCE UPON A TIME IN ANATOLIA (Nuri Bilge Ceylan, Türkei 2011)

Ein Film, der sich über seine lange Laufzeit verjüngt, der immer lebendiger und dringlicher wird und den Zuschauer am Ende eine ganze Welt bewohnen lässt. Ein Meisterwerk, das ich nach der ersten Stunde noch nicht habe kommen sehen, was nicht heißen soll, dass die erste Stunde enttäuscht, sondern nur, dass ich Abstand gewinnen musste von meinem Alltag, entlang langer gewundener Straßen, bis ich bereit war.

THE WILD PEAR TREE (Nuri Bilge Ceylan, Türkei 2018)

Ich war immer der Meinung, dass Zeigen seliger denn Reden sei im Kino, aber hier ist das anders. Die tour de force der (größtenteils verbalen) Konfrontation zwischen dem etablierten Autor und dem arroganten jungen (Anti-) Helden zum Beispiel dauert „endlose” acht Minuten, aber entwickelt eine Intensität, die über die eines üblichen Film-Dialogs weit hinausgeht. Und dann ist da noch die Begegnung mit der Frau, die heiraten wird, und die ihn zu seiner Überraschung erwählt, die schon besiegelte Abzweigung einen Moment lang aufzuheben. Diese Szene der sich aufbäumenden Lust am Leben, das Haar im Wind, zwischen Süße und Bitterkeit, ist herzzerreissend.

TOKYO YAKYOKU (Jun Ichikawa, Japan 1997)

Mit leichter Hand skizziert Jun Ichikawa eine Fülle kleiner, alltäglicher Momente, die sich nach und nach zu einem schwebenden Panorama verpasster Chancen fügen. Traurig und schön.


KILLERS OF THE FLOWER MOON (Martin Scorsese, USA 2023)

Beinahe so etwas wie ein Comeback für Scorsese; ein Film, der thematisch und visuell neue Herausforderungen sucht und sich nicht (wie zuletzt THE IRISHMAN) mit Eigen-Pastiche zufrieden gibt. Es entsteht das detailreiche Bild einer Gesellschaft, in der die Gier – wie es in dem schönen Teaser heißt – „ein Tier” ist, „das nach Blut durstet”, und Gewalt und Rassismus weniger als „Ursünde” denn als Standard-Betriebssystem des amerikanischen Kaptalismus' kenntlich werden.

COUP DE TORCHON (Bertrand Tavernier, F 1981)

Entgrenzung als Programm: Wenn es niemanden gibt, dem man Rechenschaft schuldig ist, warum dann noch mühsam den Firnis der Zivilisation nachpinseln? Für „Lucien Cordier” (Phillippe Noiret in seiner besten Rolle) gibt es kein Halten mehr, als er – einer plötzlichen Eingebung folgend – versteht, dass er die Demütigungen, die er bis dahin geduldig ertragen hat, auch erwidern kann. Im Irgendwo Französisch-Westafrikas, am Vorabend des 2. Weltkriegs, nimmt er sich fortan alles heraus, was ihm zupass kommt, von Sex bis Mord. Seine unmoralische Ermächtigung ist rasend komisch, haarsträubend grausam und gerade in seiner befreiender Wirkung verstörend.


IL SORPASSO (Dino Risi, Italien 1962)

Eine Ehrenrettung des Angebers? Ein Lob der Dreistigkeit? In jedem Fall bringt die Figur des „Bruno Cortona”, die Vittorio Gassmann hier mit Gusto spielt, den Film, unsere brave Stellvertreterfigur „Roberto” (Jean-Louis Trintignant) und auch das weitere Personal des Filmes groß in Fahrt. Bruno hupt, beschleunigt, überholt, macht sich über alles und jeden lustig (sogar Antonioni!), aber natürlich entstehen mit der Beschleunigung Fliehkräfte... die zunächst vor allem auf Roberto wirken, der seine Lebensabwehr, als Vernunft getarnt, zu hinterfragen beginnt. Eine temporeiche Komödie, ja, (der deutsche Titel will es dabei belassen: „Verliebt in scharfe Kurven”) aber die „Strecke” wird nach und nach brüchiger, der Humor doppelbödiger, und konsequenter Weise endet der Film im Schrecken.


VERBRANNTE ERDE (Thomas Arslan, D 2024)

Kein Gramm Fett – die Ökonomie dieser Genre-Erzählung ist beinahe schmerzhaft, was zu den verengten Spielräumen der Hauptfigur „Trojan” (Mišel Matičević) passt, 14 Jahre nach dem ersten Auftauchen in Arslans IM SCHATTEN. Gleichzeitig hat die Effizienz nichts mit dem gedankenfaulen Primat des Erzählens zu tun, wie wir es aus vielen Serien kennen, sondern interessiert sich für Handlungen, die die Haltung der Figuren auf den Punkt bringen. Gelegentlich hat das Züge eines bresson'schen Gestenspiels, entleert und modellhaft, dann wieder gibt der Film sich ganz dem Spaß am Genre hin. Ein Glücksfall. (Kinostart: 18.07.2024.)

DER PANTHER (Jan Bonny, D 2024)

Das rare Beispiel einer echten Dreistigkeit im deutschen Kino. Bonny und die Titelfigur „Johnny“ – gespielt von Lars Eidinger, den ich noch nie so gut gesehen habe – scheinen sich gegenseitig anzustacheln, sind Sparringspartner in dieser erschreckenden und schön riskanten Schlachtplatte, die auf einem wahren Fall basiert (oder sich zumindest daran entzündet hat). Solche „unentschuldbaren“ Charaktere, die ihr Umfeld - und uns - verlegen machen und zum Bekenntnis zwingen, gespielt von Schauspielern, die sich nicht selber richten, die nicht dauernd „Sorry” sagen und in Richtung Publikum blinzeln, sind in der deutschen Kino- und Fernsehbürokratie quasi nicht vorgesehen; um so schöner, dass der Film in der kurzen Morgenluft der Streaming Wars entstehen konnte und jetzt die Hand aus dem frischen Grab von Paramount+ hervorstreckt. Wir sollten sie ergreifen!


(Ich hoffe sehr auf ein Double Feature mit VERBRANNTE ERDE, im Kino, als zwei faszinierend gegensätzlichen Spielarten des Gangsterfilms, die – zusammen mit dem schönen SCHOCK von Daniel Rakete Siegel & Denis Moschitto – beinahe so etwas wie eine Gangster-Dämmerung im deutschen Film darstellen.)


THE ZONE OF INTEREST (Jonathan Glazer, UK 2023)

Ein Film über die entmenschlichende Aufspaltung der Welt in berührungslose Sphären. Jonathan Glazer hat eine schlüssige Form gefunden für die moderne Abstraktion des Massenmords. Der Horror heißt Kontext. Der Film erzählt, einerseits, von den Banalitäten eines Täterlebens, des Lagerkommandanten Höß und seiner Familie in Auschwitz, ohne eindeutige Angebote der Identifikation, ohne klassische Mittel der Subjektivierung. Ein Haus, ein Garten, eine Mauer – und kein Blick ins Jenseits dieser Mauer. Die Bildpolitik des Films ist vielleicht manchmal zu sehr „Klinik”, die der Welt perfekte Präparate abringen möchte, auch wenn das Leben eben wuchert. Aber die Klarheit, die so möglich wird, bedeutet, dass man das „Modell” drehen und wenden kann. Die Praxis des Mordens in Auschwitz wird, andererseits, verlagert in einen „B-Film”, der nur aus Tönen besteht, und den wir uns komplementär zum häuslichen Idyll, komplettierend, vorstellen müssen. Diese sozusagen auf Schienen geführte, audio-visuelle Schizophrenie antwortet auf die bekannten Repräsentationsprobleme, und auch wenn sie für mich (beim ersten Sehen) unter „Originalitätsverdacht” stand, habe ich dem Film vertrauen können. Interessant sind die Ausnahmen, die sich Glazer eben dann doch erlaubt: das Rot der Blume, die die Leinwand flutet, Höß, der aus „Hänsel und Gretel” vorliest, ein Mädchen, das – gefilmt mit Wärmebildkameras – für die KZ-Häftlinge Äpfel versteckt und ein Notenblatt der Hoffnung rettet.